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Wie ist man seiner Zeit voraus, Helene?

Helene Schreiber holt mich vom Hauptbahnhof ab. Freitags um zehn Uhr steht sie alleine auf dem leeren Bahnhofsvorplatz in Erfurt, ihr Auto auf dem Parkplatz daneben. Ich erkenne sie sofort. Vorher hatte sie geschrieben – über Whatsapp –, dass sie etwas außerhalb von Erfurt wohne und zu ihr nur stündlich ein Bus fahre. Sie würde mit dem Auto kommen.

In ihrem Wohngebiet stehen vor allem Einfamilienhäuser. Schwungvoll fahren wir in die Einfahrt, wo der Nachbar gerade das Auto putzt, schwungvoll bleiben wir stehen. Während Helene Schreiber in einem Zug am Auto des Nachbarn vorbei in ihre Garage fährt, wie sie es sicher schon hunderte Male getan hat, schaut der Nachbar etwas angestrengt. Vor einer Weile habe sie beim Einparken an seinem Auto eine Schramme hinterlassen, erklärt er. Mit einem Grinsen steigt Helene Schreiber aus.

Das Reihenhaus, in dem sie wohnt, steht ganz am Rand der Wohnsiedlung. Bis vor kurzem wohnte sie hier mit ihrem Mann, doch der ist vor wenigen Wochen verstorben. Hinter dem Haus sind nichts als Felder und die Straße, über die wir gerade vom Hauptbahnhof hierher gefahren sind.

Aus dem Keller bringt Schreiber Weintrauben mit nach oben. Sie stellt einen Teller mit Trauben neben den Kuchen, den ich am Bahnhof noch schnell gekauft habe. Unauffällig macht sie ihre Hörgeräte rein, die so klein sind, dass ich sie von allein niemals bemerkt hätte. Dann geht es los. Und zwar ganz von vorn. Denn nach 81 Jahren hat man eine Menge zu erzählen. Besonders, wenn man ein Leben geführt hat wie Helene Schreiber.

Die Wurzeln auf dem Geflügelhof

Eigentlich hätte sie Bäuerin werden sollen, wie schon ihre Mutter und Generationen davor. Stattdessen ist sie Ärztin geworden. Hat erst als Oberärztin in einer Klinik die Verantwortung für ein Fachgebiet übernommen, danach in der Poliklinik gearbeitet und dann eine eigene Praxis geführt. Heute würde man sagen, sie hat Karriere gemacht. Zu ihrer Zeit hätte das über Frauen wahrscheinlich noch niemand gesagt. Und genau das macht Helene Schreiber so besonders.

Mit 12 verlor das Leben zum ersten Mal an Leichtigkeit

Sie sei 1938 geboren worden, erzählt Helene. Vor dem zweiten Weltkrieg. Der habe ihre Kindheit und Schulzeit bestimmt. „1944 bin ich in die Schule gekommen. Eine kleine Schule auf dem Dorf, da waren alle, von der ersten bis zur vierten Klasse, in einem Raum.“ Wegen der Bombenangriffe sei die Schule in den ersten Jahren oft ausgefallen, eine Zeit lang habe es gar keinen Unterricht gegeben. Mit 12 kam Helene auf die Zentralschule in der nächstgrößeren Stadt. In diesen Jahren verlor das Leben auf dem Land für sie etwas von seiner Leichtigkeit. Denn mit 14 begann sie, auf dem Hof ihrer Eltern mitzuhelfen. Dort gab es viel zu tun.

Morgens um 4.30 Uhr begann die Arbeit

„Morgens um 4.30 Uhr haben wir angefangen und bis abends 20 Uhr gearbeitet. Jeden Tag“, erzählt sie. „Für mich gab es kein Wochenende, ich konnte nicht ins Freibad gehen mit meinen Freunden. Und zum Tanzvergnügen mit den anderen jungen Leuten aus dem Ort konnte ich immer erst abends um 9 kommen, wenn alle anderen schon wieder gegangen waren.“ Die Zeit hat Schreiber sehr geprägt. Letztendlich war die harte Arbeit auf dem Hof der Grund dafür, warum sie so einen anderen Lebensweg als ihre Eltern eingeschlagen hat. Ihr Alltag als Erwachsene war das Gegenteil von dem auf dem Bauernhof: Ungebunden, mit festen Arbeitszeiten. Viel Platz für sie allein – und mit einem Segelschein, so dass sie viele Wochenenden auf dem Segelboot in grenzenloser Freiheit verbrachte.

Es sind die Kleinigkeiten

Das Leben wird von Kleinigkeiten bestimmt, sagt Schreiber. Viele kleine Erlebnisse waren es letztendlich auch, die zu ihrer Entscheidung, keine Bäuerin zu werden, beigetragen haben. Einmal habe sie beispielsweise Futter für die Tiere auf dem Hof klein gemacht. Das sei eine sehr mühsame, anstrengende Arbeit gewesen: „Wir mussten das immer extra in einer Mühle klein häckseln“, sagt sie. Sie habe die Arbeit nur ungern gemacht. Genau in diesem Moment, in dem sie als Teenagerin im Stall saß, von einem Nachmittag im Freibad träumt und das Futter in schweißtreibender Arbeit kleinhäckselte, sei ihr klar geworden: So sollte ihr Leben nicht aussehen. „Auf einmal habe ich mir gedacht: ‚Nein, ich will das auf keinen Fall für immer machen‘“, erzählt sie.

‚Ich wollte frei sein‘

Den Anstoß, sich wirklich einen anderen Beruf als Landwirtin zu suchen, habe dann aber ein anderer Vorfall gegeben. „Mein Vater hatte einen Mann für mich ausgesucht“, erzählt Schreiber. „Mein Vater war von der alten Schule, der kannte das so. Eines Tages kam er zu mir und meinte: ‚Wie wäre das denn, mit dem?‘ Ich sollte mal bei deren Hof vorbeischauen.“ Dass sie das nicht wollte, sei für sie von Anfang an klar gewesen. „Meine Freundinnen haben teilweise direkt mit 18 oder 19 geheiratet und gleich Kinder bekommen“, erzählt sie. Dieses Leben habe sie für sich nicht gewollt. „’Die müssen doch alle verrückt sein‘, habe ich gedacht. Ich wollte frei sein“, sagt sie lachend. Sie schüttelt den Kopf, als sie das erzählt, der Schalk sitzt in den Fältchen um ihren Mund. Ich kann mir die rebellische, freiheitsliebende, junge Helene Schreiber gut vorstellen.

Eine Ausbildung zur Geflügelzüchterin

„Damals habe ich zu meinen Eltern gesagt, das könnt ihr euch abschminken.“ Helene Schreiber wollte nicht heiraten, sondern auf eigenen Beinen stehen. Also ging sie an die Arbeiter-und-Bauern-Fakultät (ABF). Das war eine Vorstudieneinrichtung der damaligen DDR, die es Kindern von Bäuer*innen und Arbeiter*innen erlaubte, das Abitur zu machen. Dort meldete Schreiber sich an. Bevor sie ihr Abitur machen durfte, brauchte sie allerdings eine Berufsausbildung. So begann sie eine Ausbildung zur Geflügelzüchterin. Schließlich hatten sie Hühner daheim auf dem Hof. Auch, wenn es ihr darum eigentlich nicht ging. Sondern um das Abitur. Und um die Möglichkeit, endlich rauszukommen.

‚Die Fahne hochhalten‘

Für die Schüler*innen gab es im Internat der ABF einen strengen Zeitplan mit Hausaufgaben und außerschulischen Terminen. Schreiber musste auch auf DDR-Paraden „die Fahne hochhalten“, wie sie es nennt, und zu Bildungszwecken ins Theater oder zu Konzerten gehen. „Wir haben das damals verflucht“, erzählt sie, „aber im Nachhinein war es gut für uns.“ In der DDR mussten Arbeiter*innen und Schüler*innen zu Bildungszwecken regelmäßig kulturelle Veranstaltungen besuchen. So sollten die Lebenswelten von Arbeiter*innen und Akademiker*innen sich einander annähern.

Eine Leidenschaft für Bücher

Damals ist Schreiber zum ersten Mal tiefer mit Literatur in Kontakt gekommen. Dass das einen nachhaltigen Effekt auf sie hatte, sieht man, wenn man sie zu Hause besucht: Überall sind Bücher. Als sie mich durch das Haus führt, staune ich über die Bücherwände. Sie jedoch geht mit schlafwandlerischer Sicherheit an ihnen entlang und kommentiert die Auswahl. Mit festem Griff zieht sie verschiedene Bücher aus dem Regal, Fachbücher, Romane, und kommentiert sie. Sie genieße es sehr, Bücher, die sie vor langer Zeit gelesen habe, ein zweites Mal zu lesen, erzählt sie und zeigt mir das Lieblingsbuch ihres verstorbenen Mannes. Der war Germanist. Die Leidenschaft für Bücher haben sie geteilt.

Mittlerweile haben wir in Helene Schreibers Haus in Erfurt schon die zweite Kanne Tee ausgetrunken. Das Obst und der Kuchen sind alle und so langsam liegt der Gedanke an Mittagessen in der Luft. Sie schlägt den Gasthof im Dorf vor, dort geht sie oft essen, sagt sie. Gutes Essen, man kennt sich. Wir fahren mit dem Auto, weil sie keine Lust hat, zu laufen. Zeit haben wir natürlich auch keine. Sie fährt schwungvoll. Wie immer.

Im Gasthof angekommen, wird Helene Schreiber herzlich begrüßt. Besorgt nimmt die Wirtin sie in ihre Arme, immerhin ist ihr Mann vor ein paar Wochen gestorben. Schreiber lässt es würdevoll geschehen. „Wie geht es dir“, fragt die Wirtin leise und ich höre die nächsten Minuten geflissentlich weg.

Als wir bestellt haben, führt Helene Schreiber mich durch die Nebenräume. Die Räume sind leer, nur an den Wänden hängen bunte Bilder in ganz verschiedenen Stilen. Vor einem bleibt sie stehen: „Das ist von mir“, sagt sie mit stolzer Stimme und betrachtet das Bild mit dem liebevollen, prüfenden Blick, den man auch einem alten Freund schenken würde. Seitdem sie in Rente ist, hat sie angefangen, zu malen. Ihr Mann hatte sie damals als Geschenk in einen Volkshochschulkurs eingetragen. Später fanden Kurse im Dorfgasthof statt. Das Malen ist ihre neue Leidenschaft. Es gibt ihr Ruhe, sagt sie. Auch in ihrem Haus hängen überall Bilder an den Wänden, die sie gemalt hat. Als sie noch gearbeitet hat, erzählt sie, hatte sie dazu keine Zeit. Für ihre Karriere hat sie viel geopfert. Jetzt genießt sie es, den Pinsel in die Hand zu nehmen.

Alles geben in der Uni

„Wenn man etwas will, muss man auch bereit sein, etwas dafür zu tun“, sagt Schreiber. Sie habe damals frei sein wollen. Unabhängig. Selbstständig. Nicht unbedingt ein weit verbreiteter Wunsch für eine Frau vom Dorf in den 60er Jahren, sagt sie. Viele Frauen hätten damals vor allem den Wunsch gehabt, versorgt zu sein. „Ich habe das bei meiner Mutter gesehen“, erzählt Schreiber, „sie war immer abhängig von meinem Vater. Sie hatte ihn geheiratet, er hatte einen Bauernhof, also hatte sie nur sehr wenig Freizeit.“

Das habe sie für sich auf keinen Fall gewollt. Sie ist überzeugt: „Wenn man etwas wirklich will, dann schafft man es auch – wenn auch vielleicht über Umwege.“ Deswegen sei sie gewillt gewesen, neun Jahre für ein Studium zu opfern. Schöne, aber auch arbeitsreiche, entbehrungsreiche Jahre.

Ein Karriereweg, wie sie ihn gegangen ist, wäre heute deutlich schwerer als in der DDR, glaubt Helene Schreiber: „Mir als Mädchen vom Bauernhof hat die DDR die Möglichkeit gegeben, mich so zu entfalten, wie ich es wollte.“ Drei Jahre lang war sie auf der Arbeiter-und-Bauern-Fakultät, dann immatrikulierte sie sich 1961 an der Humboldt-Universität in Berlin. Sie wollte Kinderärztin werden.

Immer ein Plan B in der Hinterhand

Dass das geklappt hat, daran hat auch ihr Selbstvertrauen einen großen Anteil. Nie zögert sie, wenn sie spricht. Sie weiß, was sie will. Wusste sie schon immer. „Es war für mich aber auch nicht schwer, Selbstvertrauen zu haben“, sagt Helene Schreiber. Schließlich habe sie immer gewusst, dass sie im Notfall ein sicheres Zuhause auf dem Hof hatte, in das sie zurückkehren konnte. Ihr habe es geholfen, bei allen Entscheidungen und Veränderungen im Leben immer einen Plan B in der Hinterhand zu haben.

Nicht, dass der besonders oft zum Einsatz gekommen wäre: „Ich bin mir immer sicher gewesen, dass ich die Ausbildung und die Uni schaffen würde.“ Dort habe Leistung gezählt. Sie habe hart arbeiten müssen. Aber sie habe sich immer gesagt: Du bist aus diesem Dorf weggegangen, wenn du jetzt zurückkommst, denken die, du bist zu dumm. Also habe sie alles gegeben.

Helene Schreiber wollte unbedingt Kinderärztin werden. Ihre Facharzt-Ausbildung wollte sie in Chemnitz, damals noch Karl-Marx-Stadt, machen. Ihre Noten waren gut. Trotzdem wurde sie abgelehnt. Schreiber fand letztendlich einen Platz in Templin. Später erfuhr sie, dass ihe Geschlecht der Grund für die Ablehnung in Chemnitz gewesen war: „Ich habe irgendwann den Chefarzt aus Chemnitz kennengelernt, der mich damals abgelehnt hatte“, erzählt sie. „Er hat mir erklärt, warum ich den Platz nicht bekommen habe: Weil ich eine Frau war. Er habe damals schon genug Frauen in der Abteilung gehabt, meinte er.“

Alle Freiheit der Welt

Nach ihrer Ausbildung zur Fachärztin wurde sie in Templin Oberärztin. Sie war ungebunden, frei, hatte einen großen Freundeskreis, ein Auto, eine große Wohnung für sich allein. Einen Segelschein. Am Wochenende sei sie segeln gegangen, ins Theater oder auf Konzerte.

Und trotzdem: Alleinstehend zu leben, sei für sie oft nicht einfach gewesen. Niemand habe ihr etwas abgenommen. Wenn ihr Auto kaputt war, musste sie in die Werkstatt fahren. Bei allen anderen haben sich die Männer gekümmert. Einmal habe sie einen neuen Teppich kaufen wollen. Weil er so schwer war, habe sie einen Freund gebeten, ihr zu helfen.

„Er hat mir diesen schweren Teppich in die Wohnung geschleppt“, lacht sie, „aber als wir ihn ausgerollt haben, hat es mir nicht gefallen. Der Teppich hatte genau dasselbe Blau wie ein FDJ-Hemd. Durch die Beleuchtung im Laden hatte ich das nicht gesehen.“ Also habe sie ihren Freund bitten müssen, den Teppich wieder zurückzutragen.

Zu zweit, meint Schreiber, hätte das Leben einfacher sein können. Die Beziehungen, die sie hatte, seien aber meist nur Wochenendbeziehungen gewesen. Keine Männer, mit denen sie sich vorstellen konnte, ihr Leben zu verbringen. Alleinerziehend wollte sie keine Kinder bekommen. Außerdem war sie in ihrem Umfeld nicht die einzige unverheiratete Frau und als Oberärztin ohnehin die meiste Zeit mit einem Bein in der Klinik. Sie hatte sich darauf eingestellt, dass es so bleiben würde: Sie, eine kinderlose Single-Frau, mit viel Arbeit und einem ungebundenen Leben. Es kam anders.

Ehe und Kinder mit 42

Denn dann kam einer in ihr Leben, der anders war. „Er war hartnäckiger als die anderen“, sagt sie. Herbert Schreiber war Germanist und lebte in Erfurt. Er war Witwer und hatte eine elfjährige Tochter. Und er wollte, dass sie zu ihm zog. „Alle meine Freunde haben damals gesagt, bist du irre, alles aufzugeben, was du dir hier aufgebaut hast, um dir die Pubertät von einem Teenager anzutun!“

Helene Schneider lacht, als sie das erzählt. Aber sie hatte Lust auf etwas Neues. Lust, nicht mehr nur mit Mediziner*innen zu tun haben wie in Templin. Sie wollte das ausprobieren. Also zog sie nach Erfurt und heiratet Herbert Schreiber. Mit 42.

Vierzig Jahre waren sie zusammen. Anfang 2020 ist ihr Mann gestorben. Jetzt wohnt Schreiber alleine in dem Haus bei Erfurt. Füllt es mit Leben, so gut sie kann. Als ihr Mann noch gelebt hat, sind sie viel verreist. Ihr Mann, der auch die gesamte DDR-Zeit miterlebt hatte, habe immer gesagt: „Ich traue dem Frieden nicht. Irgendwann machen sie die Grenzen wieder zu.“ Also seien sie viel unterwegs gewesen. Auch, als er schon älter war und seine Krebs-Diagnose hatte. Dann mit Busreisen und Kreuzfahrten.

Nur eine ihrer verrückten Ideen, die habe er nicht umsetzen wollen: „Nach meinem Ruhestand mit 65, da ging es uns noch beiden körperlich gut, da habe ich zu meinem Mann gesagt: ‚Lass uns doch zwei Jahre nach Afrika gehen!‘ Da hatte ich schon immer mal hingewollt.“ Sie lacht, als sie von der Antwort ihres Mannes erzählt: „‘Bist du verrückt‘, hat er gesagt, ‚du hast 40 Jahre gearbeitet und jetzt willst du dahin gehen und dir die Kehle durchschneiden lassen?‘“ Damals habe es im Kongo gerade Unruhen gegeben. Auf dem afrikanischen Kontinent ist Helene Schreiber letztendlich nicht gewesen. Die meisten anderen Träume hat sie sich aber erfüllt.

Auf einmal arbeitslos

Ende der 80er Jahre hat sie promoviert. Die Ergebnisse ihrer Forschung mit Kolleg*innen wurden sogar auf der Weltkonferenz in Paris vorgestellt, erzählt sie stolz. Später hat sie außerdem in Erfurt und Templin an Fachhochschulen Anatomie und Kinderheilkunde unterrichtet. Und eine eigene Praxis eröffnet. Auch wenn das mehr aus der Not heraus war und im Rückblick einer der sorgenvollsten Momente in ihrem Leben, sagt sie. Wie in vielen anderen Ost-Biographien war der Auslöser für die Krise die Wiedervereinigung.

1991 erhielt Helene Schreiber von der Poliklinik in Erfurt, in der sie damals arbeitete, die Kündigung. Das Gebäude, in dem sich die Poliklinik befand, war vor DDR-Zeiten in Privatbesitz gewesen. Jetzt forderten die Besitzer*innen es zurück. Helene Schreiber war damals 51. Ein schwieriges Alter, um einen neuen Job zu finden. Sie wusste nicht, wie es weitergehen sollte – und ob es beruflich überhaupt weitergehen würde. Von einem Tag auf den nächsten war sie von einer Ärztin, die sich im Berufsverband engagierte, zu einer Arbeitslosen geworden.

Beinahe hätte sie ihre Willenskraft und ihr Selbstvertrauen verloren und einfach aufgegeben, erzählt sie: „Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, wie es weitergehen würde, was ich tun könnte.“ Ihr Mann habe ihr damals Mut zugesprochen: „Er hat zu mir gesagt: ‚Du hast so viel gemacht, was dir Spaß gemacht hat, dich engagiert – du kannst doch jetzt nicht einfach arbeitslos sein.‘“

Also hat Helene Schreiber gekämpft, so wie auch schon viele Jahre zuvor. Gemeinsam mit einer jüngeren Kollegin hat sie in Erfurt eine Kinderarztpraxis aufgemacht. Das war für beide Frauen ein großes finanzielles Risiko: „Wir haben damals beide ganz bewusst unsere Männer da rausgelassen – wir haben gedacht, wenn wir Pleite gehen, haben wir so wenigstens noch unsere Wohnungen.“

Das Leben gibt es nur als Paket

Aber sie gingen nicht Pleite. Die Praxis lief hervorragend. Auch, wenn beide dafür viel arbeiten mussten. Zwölf Jahre lang – dann ist Schreiber mit 65 Jahren ausgestiegen und in den Ruhestand gegangen. Wieder ein Happy End.

Als ich sie frage, ob sie in ihrem Leben auf etwas verzichten musste, ob etwas nicht so geklappt habe, wie sie es sich gewünscht hätte, überlegt sie lange. „Das Gefühl, dass man nicht alles das bekommen hat, was man wollte, das hat wohl jeder“, sagt sie dann. Schließlich gebe es alles im Leben nur als Paket – das Negative sei immer dabei. Weise Worte, denke ich, und dann sehe ich sie wieder grinsen und erinnere mich, wie sie schwungvoll direkt neben dem verkniffenen Gesicht ihres Nachbarn auf die Bremse getreten ist. Zu sagen, dass sie jung geblieben ist, wäre untertrieben.

Sie fühle sich auch nicht wie 80, sagt Helene Schreiber. Vielleicht, überlegt sie, sei das so, weil sie immer viel mit jungen Leuten zu tun gehabt habe. Dann schüttelt sie wieder den Kopf und lacht: „Aber manche junge Leute, die sind ja auch so langweilig, die stecke ich locker in die Tasche!“

Als ich mit der Recherche für „gretchenfragen“ begonnen habe, habe ich sehr viele Menschen aus meinem beruflichen oder privaten Umfeld gefragt, welche Frauen sie gern auf der Seite porträtiert sehen würden. Eine meiner Freundinnen hat die Frage wiederum in ihrem Umfeld gestreut.

Daraufhin hat eine junge Frau Helene Schreiber vorgeschlagen. Es war ihre Enkelin, die stolz auf den Lebensweg war, den ihre Oma gegangen war.

Ich fand Helene Schreibers Biographie spannend, weil sie es geschafft hatte, als junges Mädchen schon für ihre Freiheit und ihre Karriere einzustehen – in einer Zeit, in der das für viele Frauen gar nicht infrage kam. Mich hat interessiert, wie sie damals, ohne wirkliche Vorbilder, überhaupt auf die Idee gekommen war, ihren doch so eigenen Weg zu gehen. Helene Schreiber zeigt, wie viel der eigene Wille und ein bisschen Selbstvertrauen auf lange Sicht ausmachen können.

Ich habe Helene Schreiber am 14. Februar 2020 bei Erfurt getroffen. Das Porträt gibt den Stand wieder, den ihr Leben zu diesem Zeitpunkt hatte.

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