Draußen ist die Welt grau und feucht, aber hier im Haus Damiano in Kiel ist es warm und heimelig. Schwester Maria Magdalena Jardin empfängt mich mit einem Lächeln und einem Glas lauwarmem Wasser. Das ist gesünder als kaltes Wasser, erklärt sie: „Seitdem unsere indischen Schwestern mit hier sind, trinken wir das immer so.“ Seit zwei Jahren ist der Konvent, den sie leitet, international, als einziger in Deutschland. Zwei indische Schwestern und drei deutsche Schwester leben im Haus Damiano in Kiel. Sie Inderinnen den Fortbestand des Konvents, der in Deutschland schwer zu organisieren ist.
Schwester MM lotst mich in einen Raum mit einem langen hölzernen Tisch. An der Wand hängt ein einsames Kreuz, auf dem Tisch steht ein Strauß bunter Tulpen. Schwester MM und ich sitzen uns gegenüber – die 53-Jährige in ihrer langen grauen Kutte und einer passenden Strickjacke, ich in kurzem Rock und Strumpfhose. Geduldig verschränkt sie die Hände auf dem Tisch und wartet schweigend, bis ich bereit bin.
Die beiden Ms in ihrem Namen, die stehen für Maria Magdalena. Das ist ihr Ordensname. Sie hat ihn sich selbst ausgesucht, als sie vor 30 Jahren in die Gemeinde der Franziskanerinnen von Münster St. Mauritz, einer internationalen, franziskanischen Ordensgemeinde in Kiel, eingetreten ist. Maria Magdalena, die sieht sie als ihr Vorbild aus der Bibel. Mittlerweile leitet Schwester MM die Gemeinde in Kiel.
Schwester MM mag schöne Sachen. Sie grinst entschuldigend und zuckt die Achseln, als sie das zugibt. Denn schöne Dinge bedeuten oft auch unnötigen Besitz. Und den gibt es im Leben von Schwester MM nicht. Seitdem die Nonnen in ihrer Gemeinde auch „in zivil“ unterwegs sein dürfen, hat Schwester MM auch eigene Kleidung: eine Jeans, ein Kleid, ein paar Oberteile. Bei Ausflügen tut es oft gut, auch mal so angezogen zu sein, sagt sie. Viele der Kleidungsstücke besitzt sie aber schon seit mehr als zehn Jahren. Sie sind vor allem eins: praktisch.
Ganz anders als das, was im Kleiderschrank einer Freundin von Schwester MM aus der Politik hängt. „Die hat immer so schöne Sachen an“, sagt Maria Magdalena und lächelt. „Ich habe immer zu ihr gesagt: Nur einmal allein mit deinem Kleiderschrank…“ Zum Geburtstag habe die befreundete Politikerin ihr dann einmal genau das geschenkt: Einen Nachmittag mit ihrem Kleiderschrank. Ich muss unwillkürlich lachen, als ich das höre. Schwester MM stimmt mit ein. Wieder ernster, sagt sie: „Also habe ich all ihre Abendkleider anprobiert. Und dann wars aber auch wieder gut.“
Spagat zwischen den Welten
Als Maria Magdalena in die Schwesterngemeinde eingetreten ist, hat sie drei Gelübde abgelegt: Keuschheit, Gehorsam – und Armut. Sie muss einfach leben, fast ohne eigenen Besitz. Vom Konvent bekommt sie nur ein kleines Taschengeld von 20 Euro im Monat, über alle anderen Ausgaben müssen die Schwestern gemeinsam entscheiden.
„Wenn ich Schuhe brauche“, erklärt Schwester Maria Magdalena, „entscheiden wir zusammen, ob und was ich mir leisten kann.“ Großzügigkeit sei allerdings eine wichtige christliche Eigenschaft, auch für die Schwestern untereinander. Schwerer als großzügig zu sein ist es laut Schwester MM allerdings, die Großzügigkeit der anderen annehmen zu können. Wenn sie an ihrem freien Tag nach Hamburg fährt, um Freunde zu besuchen, bezahlt der Konvent die Hälfte des Bahntickets. Das annehmen zu können, habe sie erst lernen müssen.
In einer kapitalistischen, individualisierten Welt besitzlos und gemeinschaftlich zu leben, ist für die Schwestern ein Spagat. Sie haben einen Computer und ein Auto. Beides brauchen sie für Großeinkäufe, Emails und vieles anderes. Schwester MM ist die einzige der Schwestern, die das Auto fahren kann. „Trotzdem ist es nicht mein Auto“, sagt sie. Es ist ein schmaler Grat. Kosmetik können sich die Schwestern von ihrem Taschengeld kaufen – jede die Produkte, die sie mag. „Früher gab es einen Duschgel-Schrank, da hat sich jeder bedient und alle Schwestern haben gleich gerochen“, erzählt Schwester MM. Heute sei da schon mehr Individualität möglich – zum Glück, sagt sie.
Ein Hühnerstall auf der Heizung
Schwester MM nimmt sich die Individualität, die ihr zusteht, gern. Sie liebt es, wenn Nonnen „kantige Persönlichkeiten“ sind. Die Schwestern, die ihren Werdegang geprägt haben, sind so gewesen, sagt sie. Sie hofft, eines Tages auch selbst so wahrgenommen zu werden. Und wahrscheinlich ist sie auf dem besten Weg dahin. Da ist zum Beispiel die Sache mit den Hühnern.
Auf einer Heizung vor dem Fenster im Gemeinschaftsraum, in dem wir sitzen, steht ein selbst gebastelter, kleiner Hühnerstall. Auf einem Brett ist ein Zaun befestigt, Wiese und Erde angedeutet: Darauf: ein selbst gebauter, kleiner Hühnerstall auf Stelzen und drei kleine Spielzeug-Hühner, eins davon noch mit dem Papierband aus dem Laden am Fuß. Warum steht ein Hühnerstall mitten im Gemeinschaftsraum der Nonnen? Bevor sie antworten kann, lacht Schwester MM herzlich. Ein Hühnerstall – das ist der nächste Traum, den sie gern verwirklichen würde, sagt sie. Deswegen hätten Bekannte den kleinen Stall für sie gebastelt. Sie wünsche sich schon lange, Hühner zu halten. Mitten in der Stadt und auf dem Gelände der Gemeinde sei das zwar schwierig. Aber: „Vielleicht findet sich irgendwann ein Weg. Bisher haben ja auch viele andere Dinge geklappt, an die niemand sonst geglaubt hat.“ Glauben, das kann Schwester MM.
Träume wahr machen kann sie auch. Manchmal. Neben der Sache mit den Hühnern war da nämlich auch die Sache mit dem Café. Ihre Eltern haben eins, in Recklinghausen, da, wo sie her ist. Deswegen habe sie auch schon immer eins haben wollen. Mit der Arbeit als Nonne schien das allerdings nicht vereinbar. Bis vor vier Jahren. Seit damals hat der Konvent in Kiel ein kleines Cafe, das auch als Postbüro fungiert. Ein Ort, der nützlich ist, an den die Leute gern kommen, das war das Ziel. „Die Idee für das Café kam von mir – darauf bin ich stolz“, sagt Maria Magdalena Jardin.
Freiheit, aber mit strengem Rhythmus
Feste Preise gibt es in dem kleinen Café nicht, alles funktioniert auf Spendenbasis. Das wäre in einem normalen Café niemals gegangen, meint Schwester MM. Auf eine Weise seien sie hier in der Gemeinde viel freier als in der Welt außerhalb: „Wir als Ordensfrauen können hier in der Gemeinde total frei agieren, können entscheiden, wie wir Seelsorge betreiben, welche Schwerpunkte wir setzen wollen.“ Oft vermittelten die Medien das Bild, dass Ordensfrauen nur ausführten, was andere vorgeben. Das stimmt so nicht, sagt Schwester MM: „Ich fände es schlimm, wenn ich mich nur unterordnen müsste.“
Und trotzdem: Ihr Alltag ist fest durchgetaktet. Es ist kein entspanntes Leben, das Maria Magdalena Jardin im Konvent führt. Drei oder vier Mal am Tag beten die Schwestern gemeinsam, manchmal kommen dabei auch andere Gemeindemitglieder dazu. Ansonsten macht Schwester MM Seelsorge-Gespräche und „schnöde Büroarbeit“, wie sie es nennt. Die ist nötig, um die Gemeinde zu organisieren. Manchmal betreut sie Schulklassen, die zu Besuch im Konvent sind, oder andere Gäste im Haus Damiano. Nachmittags ist sie meist im Café, als Ansprechpartner für die Gemeinde. Und dann sind da noch ihre indischen Mitschwestern, denen Schwester MM hilft, sich einzuleben und die ersten eigenen Aufgaben zu übernehmen. Eine von ihnen ist erst seit fünf Monaten in Deutschland.
Maria Magdalena Jardins Tage beginnen früh und enden spät. Zeit, um allein zu sein oder kurz durchzuatmen, ist dabei selten. Nur morgens vor dem ersten Gebet verbringt sie eine halbe Stunde allein in Stille. „Ich könnte schon mehr Alleinsein vertragen“, gibt sie zu. Meist ist das nicht möglich. Die Gemeinde zu leiten, ist ein Vollzeitjob. Und „sehr, sehr herausfordernd“, erzählt Maria Magdalena Jardin.
3 Wochen Ausbrechen im Jahr
„Der Einsatz, den wir bringen, ist hoch“, sagt die Ordensfrau. Der Dienst an der Gemeinde gehe nicht spurlos an den Nonnen vorüber: „Wir stehen den Menschen in ihren Sorgen bei, egal, wie schwer sie sind.“ Das sei oft belastend. Deswegen stehen den Ordensfrauen ein freier Tag im Monat und drei Wochen Urlaub im Jahr zu.
Das Budget dafür ist zwar sehr klein, aber es reicht, um sich eine kleine Ferienwohnung zu teilen. Für Schwester MM bedeutet das auch einen Ausbruch aus dem Alltag: „Ich merke, dass ich in meinem Urlaub alles anders mache als sonst. Ich stehe später auf, ich esse abends warm, nicht mittags.“ Ihr geordneter Tagesablauf sei für sie zwar wie eine Leitplanke, an der sie sich festhalten und entlanghangeln könne, aber: „Manchmal, beim Mittagsgebet, denke ich auch: Ich stehe hier seit 20 Jahren am selben Platz und sage denselben Psalm.“
Veränderung durch die Hintertür
Doch leise und durch die Hintertür ändern sich einige Dinge in der Gemeinde in Kiel. Am liebsten würde Schwester MM gar nicht darüber reden. Sie denkt lange nach, spricht vorsichtig. Das ändert nichts daran, dass, was sie sagt, gewaltig ist: Seit einigen Jahren leitet sie als Konventoberin den Karfreitags-Gottesdienst gemeinsam mit dem Diakon. Eine Frau, in der katholischen Kirche, die am wichtigsten christlichen Feiertag gemeinsam mit einem Mann vor der Gemeinde steht! Wie ist das passiert? Hat Schwester MM sich den Platz leidenschaftlich erkämpft?
Nein. Sie hat stillschweigend gute Arbeit geleistet und sich unentbehrlich gemacht. Bis der Diakon an einem Karfreitag vor einigen Jahren einmal erkältet war. „Ich nehme nicht gern offen eine Gegenposition zu den Männern in der Kirche ein. Manchmal juckt es mich, aber oft ist es besser, still zu sein“, sagt Schwester Maria Magdalena und offenbart damit eine beinahe übermenschliche Selbstbeherrschung. Sie macht eine Pause, ein kleines Lächeln legt sich auf ihre Lippen. Dann sagt sie: „Aber wenn der Diakon am Karfreitag kein Wort herausbringt und zwei Männer entscheiden, dass ich die Messe leiten soll, dann sage ich ganz neutral und emotionslos Ja.“ Wieder schweigt sie kurz, den Blick nach innen gerichtet, ein leichtes Lächeln in den Mundwinkeln. Dann ergänzt sie: „Und natürlich sage ich dann zu den Männern: ‚Nächstes Jahr machen wir das zu zweit!‘“
Sie ist keine Feministin, sagt Schwester MM: „Ich will mich nicht mit einem Mann darüber streiten, was ich bin. Ich will die Dinge einfach tun.“ Sie sei gern eine der ersten Frauen in etwas. „Und wenn ich etwas einmal tue, dann lass ich das nicht mehr los.“ Zu Hause, im Dorf ihrer Eltern, war sie das erste Mädchen, das Ministrantin sein durfte. Die Jungs, sagt sie, waren zu faul. „Und ich wollte sowieso immer besser sein als die Jungs. Ich wollte beweisen, dass etwas Neues auch gut sein kann.“
Wie es zum Treffen mit Schwester MM gekommen ist
Als ich mit der Recherche für „gretchenfragen“ begonnen habe, habe ich sehr viele Menschen aus meinem beruflichen oder privaten Umfeld gefragt, welche Frauen sie gern auf der Seite porträtiert sehen würden. Eine meiner Freundinnen hat die Frage wiederum in ihrem Umfeld gestreut.
Daraufhin hat eine junge Frau Schwester MM vorgeschlagen. Sie kannte sie aus ihrer Gemeinde und war beeindruckt davon, welche Rolle Maria Magdalena Jardin als Frau in der katholischen Kirche einnahm und wie sie sich als solche gab.
Für mich schien Schwester MMs Leben als katholische Konventsoberin ein Gegenentwurf zu dem möglichst flexiblen, freien Leben zu sein, das viele Menschen anstreben. Ich wollte wissen, wie ein Leben aussehen kann, das strengen Regeln und Normen unterworfen ist. Wie viel Platz darin noch für Spaß bleibt – und für die eigene Persönlichkeit. Schwester Maria Magdalena zeigt, dass Freiheit Definitionssache ist.
Ich habe Schwester MM am 20. Februar 2020 in Kiel zu einem Gespräch getroffen. Einen Tag später war ich morgens noch einmal beim Gottesdienst der Nonnen dabei. Das Porträt gibt den Stand wieder, den Schwester MMs Leben zu diesem Zeitpunkt hatte.