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Wie wird eine Gärtnerin zur Professorin, Simone?

An ihrer Wohnung in Frankfurt hat Simone Danz einen großen Garten, zu dem nur sie allein Zugang hat. Dort blühen sonst Rosen, Hortensien, Gräser und Sträucher. Jetzt, im kalten Frühjahr, zeigen sich erste grüne Triebe an den Zweigen. Zarte Blüten leuchten zwischen dem nassen, braunen Rindenmulch. Simone Danz versichert mir, dass es hier sonst schöner aussieht. Im Sommer blühe es in ihrem Garten an allen Ecken und Enden.

In ihrer Küche jedenfalls hat der Frühling schon jetzt Einzug gehalten. Auf dem Tisch steht ein großer Strauß leuchtend gelber Narzissen. Simone wuselt umher und schneidet Gemüse, während sie von all den Wendungen erzählt, die ihr Leben bisher genommen hat. Ein bisschen klingt es wie ein Coming-of-age-Film. Studieren wollte sie eigentlich nicht, sondern körperlich arbeiten, mit Erde und Pflanzen – jetzt hat sie promoviert und ist Professorin. Drei Jahre in Indien haben ihr geholfen, ganz neu auf ihr Leben zu schauen.

Nach dem Abi in die Freiheit

„Ich bin in Wolfsburg in einem sehr behüteten Elternhaus aufgewachsen“, erzählt Simone Danz. Ihr Vater sei Ingenieur gewesen und gut situiert, die Mutter Feministin – sie selbst sei nach Simone de Beauvoir benannt. Trotzdem sei Simone eher ein Vaterkind gewesen. Er habe ihr beigebracht, nie an ihrer Stärke und Intelligenz zu zweifeln. „Mein Vater hat mir immer das Gefühl gegeben, dass ich clever bin“, sagt Simone.

Dass sie irgendwann selbstständig würde leben können, davon sei trotzdem damals niemand in ihrer Familie ausgegangen. Simone hat verkürzte Arme und vierfingrige Hände, weil sie noch im Bauch ihrer Mutter von dem Schlaf- und Beruhigungsmittel Contergan geschädigt wurde.

Trotz aller düsterer Prognosen will Simone schon als Jugendliche so selbstständig wie möglich sein. Noch vor dem Abitur zieht sie aus ihrem Elternhaus aus. „Ich habe meinen Eltern einfach gesagt ‚Tschüss, ich gehe‘. Die konnten nichts sagen, ich hatte gute Noten in der Schule und ansonsten hat auch alles geklappt.“ Simone will selbstständig werden und ihre eigenen Erfahrungen machen. Finanziell ist das möglich, weil ihr als Contergan-Betroffene Schmerzensgeld zusteht.

Mit der Zeit lernt sie neue Freund*innen kennen. Es sind junge Menschen, deren Leben ganz anders aussieht als ihres. Sie führen sie in die Welt der Meditation ein. Simone Danz, die vorher eher christlich sozialisiert war, beschäftigt sich zum ersten Mal mit Spiritualität. Sie beginnt, sich anders anzuziehen. „Ich bin damals jemand anderes geworden“, sagt sie heute. Mit 19 Jahren, kurz vor dem Abitur, zieht sie mit zwei 27-Jährigen zusammen. Zu dieser Zeit nehmen auch ihre Indien-Pläne Form an. Alles läuft ein bisschen anders, als ihre Eltern sich das vorgestellt hatten.

Stolpersteine auf dem Weg in ein neues Leben

Simones Plan: Nach dem Abitur will sie nach Indien gehen und dort ein Jahr bleiben. Sie will reisen und sich anschauen, wie die Anhänger des Gurus Bhagwan leben – heute wird die Bewegung auch Osho-Sekte genannt. Ihre Freund*innen in Deutschland sind ein Teil davon.

Aber die Zeit in Indien beginnt anders als gedacht. Es gibt keinen Bhagwan-Ashram, in dem Simone leben kann. Der Ashram ist zu dieser Zeit schon in die USA umgezogen. Und so ist Simone mit knapp 20 Jahren in Indien gestrandet, allein und unglücklich. Das Land ist anders als sie es sich vorgestellt hatte. Keine andere Welt voller Spiritualität und Weisheit. Sondern mindestens genauso kapitalistisch wie Deutschland.

Mittlerweile hat sie eine Deutsche kennengelernt, eine Anhängerin Bhagwans. „Sie hatte den Geist Bhagwans“, sagt Simone Danz heute und lächelt bei der Erinnerung. Simone will, dass die Frau ihre Mentorin wird. Die Frau selbst ist davon allerdings nicht überzeugt. „‘Was machst du hier? Fahr heim‘ hat sie zu mir gesagt“, erzählt Simone. Es dauert eine Weile, bis die junge Frau die ältere überzeugt hat. Sie beginnen, sich täglich zum Essen zu treffen. Schließlich bietet die Frau Simone an, sie gegen Bezahlung zu therapieren. Sie hat keine anerkannte Therapeutinnenausbildung, aber Simone willigt ein.

Ihren Körper so zu nehmen, wie er ist, war Simone schon immer schwergefallen. Manchmal kam es ihr so vor, als wären die kurzen Arme, die kleinen Hände ihre Feinde. In der Zeit in Indien habe sich das endlich geändert, erzählt sie: „In dieser ersten Therapie habe ich gelernt, meine Behinderung anzunehmen.“ Ein halbes Jahr habe gereicht, um in ihr einen Schalter umzulegen. Danz erzählt: „Die Frau hat zu mir gesagt: ‘Wenn du keinen Bock hast, zu leben, dann bring dich doch um‘. Ich habe Rotz und Wasser geheult und bin für ein paar Tage weggerannt. Dann habe ich erkannt, dass sie Recht hat.“

Danach habe sie sich nicht mehr als Opfer gesehen. „Ich habe mir gedacht: Umbringen kann ich mich später immer noch. Aber ich kann auch erstmal gucken, wie weit ich mit meinen kurzen Armen komme“, sagt Simone. Zum ersten Mal habe sie ihren Körper angenommen, sich darin wohl gefühlt und auch Sex gehabt.

Zurück in der Heimat

Ihre Zeit in Indien neigt sich nach knapp drei Jahren dem Ende zu, als Simones Eltern ihr den Geldhahn zudrehen. Ihre Tochter in Indien zu wissen, macht ihnen nach wie vor Angst. Also haben sie um eine Vollmacht gekämpft, mit der sie dafür sorgen können, dass Simone keinen Zugriff mehr auf ihr Geld hat.

Aber die Tochter will sich nicht geschlagen geben, sondern verhandelt. Sie will erst nach Hause kommen, wenn ihre Eltern ihr Leben in Indien kennengelernt haben. Die beiden willigen ein und fliegen zusammen mit Simones jüngerer Schwester für zwei Wochen nach Indien. Simone erzählt: „Am dritten Tag hat mein Vater zu mir gesagt: ‚Jetzt verstehe ich, was du hier machst.‘ Ab da war ich dann soweit und wollte nach Hause.“ Gemeinsam fliegen sie zurück nach Deutschland.

Zurück aus Indien

Nachdem Simone Danz aus Indien zurückkam, war klar, dass sie kein Studium beginnen wollte, auch wenn ihre Noten gut waren. Sie wollte mit ihren Händen arbeiten. Mit 25 begann sie eine Ausbildung zur Gärtnerin in Hannover. Sie erzählt: „Mein Chef hat mich damals gefragt: ‚Warum wollen Sie denn ausgerechnet eine Gärtnerlehre machen?‘ Mir war klar, dass es ihm um meine kurzen Arme ging. Ich habe zu ihm gesagt: ‚Warum fragen Sie mich das? Ich hätte mich nicht beworben, wenn ich nicht wüsste, dass ich das kann!‘“ Später habe der Chef ihr gesagt, dass ihm das sehr imponiert habe.

Talent liegt nicht in der Erde

Während der Gärtnerinnenlehre hatte Simone Danz sich in einen Kollegen verliebt. Als er von Hannover ins Wendland zog, um in einem Kinderheim seinen Zivildienst zu machen, ging sie mit ihm. In dem Kinderheim stellte sie fest, dass ihr eigentliches Talent nicht in der Erde lag: „Dort habe ich gemerkt, dass ich supergut anleiten und mit Kindern arbeiten kann. Die Kids haben mir zugehört und es war so schön, sie zu begeistern!“ Also begann Simone mit 29 eine Umschulung zur Arbeitserzieherin. Die Beziehung zu dem ehemaligen Kollegen wurde erst zur Wochenendbeziehung und war dann vorbei.

Ersti mit 35

Auch die nächste berufliche Veränderung für Simone Danz kam eher zufällig. Bei der Arbeit in einer Frühförderstelle hatte sie schlimme Erfahrungen gemacht. Ihre Kolleginnen hatten sie gemobbt – unter anderem, weil die anderen studiert hatten und sie nicht. „Mir ging es damals sehr schlecht“, erzählt Simone Danz, „ich war vier Monate lang krankgeschrieben wegen einer Depression und in Therapie.“ In der Zeit kam ihr auch die Idee, doch noch zu studieren, auch um so Zugang zu anderen Jobs zu haben.

Von der Studentin zur Chefin

Als es ihr wieder besser ging, suchte Simone Danz sich nicht nur einen neuen Job. Mit 35 Jahren wurde sie außerdem Studienanfängerin im Fach Erziehungswissenschaften. Neben dem Studium arbeitet sie als Erzieherin in einer Wohngruppe, teilweise bis zu 75 Prozent. Durch Nachtschichten ließ sich das gut mit dem Studium vereinbaren, erklärt sie. Noch während des Studiums ging Simone zurück in die Bildungseinrichtung, in der sie die Ausbildung zur Arbeitserzieherin gemacht hatte – diesmal aber als Dozentin. Mit ihrem abgeschlossenen Studium bekam sie neben der Unterrichtstätigkeit auch eine Leitungsstelle – dort, wo sie vor ein paar Jahren selbst als Lernende gesessen hatte.

Nochmal Ersti – mit 46

Doch mit der Zeit wurde auch ihr neuer Job problematisch. Durch eine Gesetzesänderung brachen immer mehr Auftraggeber weg. Die finanzielle Lage war unsicher. Simone Danz musste langgedienten Mitarbeiter*innen kündigen. Also wechselte sie. Dorthin, wo mehr Geld da ist: in den öffentlichen Dienst, an eine Hochschule in Frankfurt. Dort war sie zuerst für Budgetierung und Qualitätsmanagement eines Fachbereichs zuständig. Mit den neuen Aufgaben kam aber auch die Verwirrung: „Ich habe damals festgestellt, dass ich viele Prozesse an der Hochschule nicht gut verstanden habe, nicht genau wusste, wie Dinge ablaufen.“ Also hat Simone Danz 2007 mit 46 Jahren noch einmal angefangen, Hochschulmanagement zu studieren – berufsbegleitend diesmal.

Kündigung mit flauem Magen

Mit dem Studienabschluss nahm auch ihre Karriere noch einmal Fahrt auf. Sie übernahm die Leitung der hochschulweiten Planungsabteilung. Doch nach einigen Jahren kündigt sie auch diese Arbeit wieder. Diesmal durchaus mit einem flauen Magen. Aber auch mit einem großen Ziel: Sie wollte die Promotion abschließen, an der sie parallel zur Berufstätigkeit schon seit einigen Jahren arbeitete. „Ich hatte schon echt Angst, als ich beschlossen habe, diese sichere Stelle zu kündigen. Deswegen habe ich mich damals in dem Prozess auch mit einem Coaching begleiten lassen“, erzählt Simone Danz.

Doktorin der Philosophie

Nach knapp zwei weiteren Jahren war es dann geschafft: Seit 2015 ist sie Doktorin der Philosophie. Und das, obwohl sie eigentlich Gärtnerin gelernt hat. Simone sagt mit einem Grinsen: „Es ist schon echt ein Traum, dass ich das jetzt noch schaffe.“ Vor allem, weil ihr das Thema ihrer Doktorarbeit selbst so am Herzen liegt. Der Titel: „Vollständigkeit und Mangel – Das Subjekt in der Sonderpädagogik“. „Was als normal gilt und was nicht, wie Normalität konstruiert wird, das ist für mich ja schon auch ein Lebensthema“, sagt Simone Danz. „Vielleicht habe ich deswegen die Promotion mit so viel Feuer durchgezogen.“ 

Auftrag: Enthinderung

2016 übernahm sie ihre erste Stelle als Professorin an der evangelischen Hochschule in Ludwigsburg. Seitdem ist sie dort Professorin für Inklusive Pädagogik und Heilpädagogik. Seit zwei Jahren hat sie an der Hochschule aber auch noch einen anderen Posten inne: Sie ist Enthinderungsbeauftragte. Mit ihrer Arbeit will sie dazu beitragen, dass es Menschen mit Behinderung weniger schwer gemacht wird, an der Gesellschaft teilzuhaben. Simone ärgert es, dass Menschen mit Behinderung so oft „nicht wie normale Menschen“ behandelt werden, sagt sie.

Die große Krise mit 50

Wer mit Simone Danz spricht, merkt, dass sie weiß, wo sie im Leben steht. Sie schaut mir in die Augen, wenn sie mich kritisiert, sagt, was sie will und was nicht, und stellt kritische Gegenfragen zu meinen Fragen. Ihre Bewegungen atmen Selbstsicherheit. Es überrascht mich, als sie erzählt, dass sie mit 50 in eine tiefe Krise gefallen ist. „Ich hatte damals das Gefühl, alles wäre zu Ende“, sagt sie. „Ich war an einem Punkt, an dem die Weichen in meinem Leben gestellt waren. Ich war allein, ohne Familie, ohne großes Haus und ohne alles, was landläufig als erfolgreich gilt.”

Zu dem Zeitpunkt sei sie solo gewesen und habe nicht mehr an funktionierende Beziehungen geglaubt. An Körperlichkeiten habe es nicht gemangelt – „Ich war in Tantra-Kreisen und konnte, wenn ich wollte, immer Körperkontakt zu netten Menschen haben“, sagt sie – aber das habe nicht ausgereicht, um sie zu erfüllen. Simone Danz war sicher, dass sie sich nicht noch einmal verlieben würde in ihrem Leben. Dass sie allein bleiben würde. „Zu der Zeit habe ich auch gerade die Wohnung meiner verstorbenen Mama ausgeräumt“, erzählt sie. Dabei habe sie oft gedacht: Bei mir ist später niemand da, um das zu tun. „Kinder wollte ich auf keinen Fall, da war ich mir sicher“, sagt Simone, „aber ich hätte gern eine große Tochter gehabt, so wie viele meiner Freundinnen.“ Im Nachhinein sagt sie, dass ihr in der Zeit der Sinn im Leben gefehlt habe.

Um aus der Krise wieder herauszukommen, hat Simone Danz ihr erstes Buch veröffentlicht – eine überarbeitete Version ihrer Diplomarbeit. Sie lacht und sagt: „Ich habe jetzt eine ISBN-Nummer. Es stimmt schließlich: Wer schreibt, der bleibt.“ Im Kampf gegen ihre Krise war aber auch die Liebe im Spiel. 2013 lernte Simone Klara* kennen.

Auf einmal auf Augenhöhe

Dass sie lesbisch war, hatte sie schon vor mehr als 25 Jahren festgestellt, in ihrer Gärtnerinnenausbildung. „Es war eigentlich schon immer so, dass ich Frauen total spannend fand“, sagt Simone Danz. „Auch körperlich fand ich Frauen angenehm und wollte ihnen immer gern nah sein.“ Dann war damals Sabine in ihr Leben getreten: „Mit ihr war alles auf einmal ganz anders. Auch der Sex. Auf einmal war alles auf Augenhöhe. Es war, als ob ich mein Leben lang zu Fuß in den siebten Stock gehen musste und auf einmal einen Aufzug entdeckt habe. Mein Gefühl, was Liebe ist, hat sich um Universen erweitert.“

Ihr Coming-Out mit Mitte 20 war einfach, erzählt Simone. Ihre Eltern hätten sehr wertschätzend reagiert. Und für sie selbst habe es keinen großen Unterschied gemacht: „Als Frau mit einer sichtbaren Behinderung stehe ich auf der Straße sowieso immer unter Beobachtung. Ob ich da nun eine Frau küsse oder einen Mann, spielt keine Rolle.“

Mitten in der Krise mit 50 war es für Simone Danz dann auf einmal soweit; Dieselben Gefühle wie für ihre erste große Liebe waren wieder da. Diesmal für Klara. Die beiden Frauen sind offiziell verpartnert, wohnen aber getrennt voneinander in unterschiedlichen Städten: Simone in Frankfurt und Ludwigsburg, Klara bei Darmstadt. Nicht zusammenzuziehen war für das Paar eine bewusste Entscheidung, sagt Simone: „So hat jede von uns ihren eigenen Raum, um sich zurückzuziehen. Das ist gut, wenn es mal Stress gibt.“

Gut ist das außerdem, wenn Simone das Gärtnern vermisst. Denn das ist bei all den Karriereschritten ein Stück in den Hintergrund getreten. Zumindest so halb. Denn Klara wohnt auf dem Land. „So habe ich immer die Möglichkeit, spontan mal rauszukommen. Eigentlich optimal!“, sagt Simone Danz, ein Grinsen im Gesicht. Sie träumt von einem Tiny House mit einem großen Gemüsegarten in einer netten Gemeinschaft. Passieren wird das aber erst, wenn sie pensioniert ist, sagt Simone. „Jetzt hatten einfach meine anderen Träume Vorrang.“

*Name geändert

Als ich mit der Recherche für "gretchenfragen" begonnen habe, habe ich sehr viele Menschen aus meinem beruflichen oder privaten Umfeld gefragt, welche Frauen sie gern auf der Seite porträtiert sehen würden.

Eine Kollegin, mit der ich zu der Zeit zusammengearbeitet habe, hat dabei unter anderem Simone Danz vorgeschlagen. Sie hatte über Simone dieses Porträt geschrieben.

Ich wollte Simone treffen, weil ich spannend fand, wie viele 180-Grad-Wenden ihr berufliches Leben genommen hatte. Mich hat interessiert, wie es jeweils dazu gekommen war, und woher sie die nötige Kraft dafür genommen hatte. Simone Danz zeigt, wie es ist, wenn man sich immer wieder neu erfindet – und, dass immer (fast) alles möglich ist.

Ich habe Simone Danz am 28. Februar 2020 in Frankfurt am Main getroffen. Das Porträt gibt den Stand wieder, den ihr Leben zu diesem Zeitpunkt hatte.

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