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Muss man sich für einen Job entscheiden, Lena?

Lenas Berliner Wohnung fühlt sich gleich wie ein Zuhause an. Sie steht in einem bunten Kimono und mit einem breiten Lächeln in der Wohnungstür und geht einen Schritt zur Seite, um mich hereinzulassen. Offensichtlich zählt Inneneinrichtung zu einem der tausend Dinge, die Lena gerne und gut macht, denke ich, und bin gespannt auf den Rest der Wohnung. Lena bietet mir Getränke an und lotst mich ins Wohnzimmer.

Dass sie jetzt mit einer engen Freundin in dieser Wohnung wohnt, ist dem Zufall geschuldet – wie so vieles von dem, was sie später erzählt. Im Nachhinein ist auch dieser Zufall zu einem Glücksfall geworden.

Lena hat nicht einen Job, sondern viele. Sie macht tausend Dinge gleichzeitig. Das ist der Grund, warum ich bei ihr bin. Ich will herausfinden, wie das funktionieren kann: Tausend verschiedene Dinge machen, je nachdem, was kommt, und sich nicht für einen Job entscheiden müssen.

Einer, zwei, drei – viele Jobs

Momentan arbeitet Lena die Hälfte ihrer Zeit für eine Agentur, in der sie Weiterbildungsprogramme anbietet, unter anderem für Kunden wie das Wirtschaftsministerium. Außerdem ist sie selbstständige Trainerin und Business Coach, unter anderem für die Unternehmensberatung ihres Vaters. Und sie leitet gemeinsam mit zwei anderen Frauen die Venture Ladies, ein Berliner Netzwerk für Gründerinnen. Ach, und sie ist Hochzeitsrednerin. Das ist aber eher ein Hobby, sagt sie. Ich muss lachen.

Generation Talkshow

Lena hat Medienwissenschaften studiert. Ein Studiengang, mit dem man tausend verschiedene Jobs haben kann – oder keinen. Ihr Interesse für Medien sei durch Talkshows entstanden, sagt sie, und muss dann etwas peinlich berührt lachen. Sie ist Teil der Generation, die mit Arabella Kiesbauer und Sonya Krause aufgewachsen ist. „Ich fand das damals total spannend“, erzählt sie. Das habe sie sehr geprägt.

Auch ihren ersten Medienjob hatte sie in einer Fernsehproduktionsfirma, die vor allem Trash-TV gemacht hat. Wie die meisten ihrer Jobs war auch das ein Zufall „Ein Freund von mir hatte eine Anzeige für den Job gesehen und ich dachte, ich ruf da mal an. Am Telefon hat es sich irgendwie so entwickelt, dass ich im Scherz gesagt habe, ich bringe Jägermeister zum Gespräch mit. Das habe ich dann auch durchgezogen – ich hatte schließlich nicht viel zu verlieren. Also stand ich zum Vorstellungsgespräch mit einer Flasche Schnaps vor deren Tür. Danach war ehrlich gesagt egal, was ich erzähle.“ Sie bekam den Job beim Fernsehen. 

Eine Trainerausbildung

Ähnlich lief es auch mit ihrem anderen ersten Job. An den kam sie über ihren Vater. Der ist Unternehmensberater und Coach mit einer eigenen Firma. In der hatte Lena schon öfter mitgeholfen. „Damals hat er gerade an einer Trainerausbildung für die Industrie- und Handelskammer gearbeitet, die er selbst mit entworfen hatte“, erzählt sie. Er bot ihr an, teilzunehmen. Weil für sie ohnehin gerade nichts anderes anstand, sagte sie zu. Und stellt schon nach zwei Sekunden fest: Genau das wollte sie machen. Seitdem arbeitet Lena als Trainerin nicht nur für und mit ihrem Vater, sondern auch die IHK. 

Diesmal: Äpfel

Während die Arbeit als Trainerin für Lena auch heute noch erfüllend ist, bekam sie bei der Arbeit in der Produktionsfirma mit der Zeit immer mehr moralische Bedenken. Nach einem Jahr sei es Zeit für etwas Neues gewesen. „Ich hatte irgendwo etwas über DaWanda gelesen und gedacht, da würde ich gern arbeiten. Also bin ich einfach mal vorbeigefahren und habe mich vorgestellt. Ich habe denen gesagt, dass ich Videos machen kann und gern für sie arbeiten würde. Und dass ich gern Äpfel esse. Und dann hatte ich natürlich auch noch einen Korb Äpfel für alle dabei.“

Wieder ging der Plan auf. Lena begann, für das Unternehmen Videoanleitungen zu Themen wie Nähen und Heimwerken zu machen – erst freiberuflich, dann in einer Festanstellung. In Teilzeit natürlich, damit sie nebenbei weiter als Trainerin arbeiten konnte. 

Eine riesige Spielwiese

Die Zeit bei DaWanda, sagt sie, war wie eine riesige Spielwiese. „Ich konnte alles ausprobieren, was ich wollte.“ Mit den Jahren wurden die Videos, die am Anfang wenig Beachtung gefunden hatten, immer bekannter. Irgendwann waren sie eine Art Markenzeichen für das Unternehmen. 

Lena selbst hatte da aber schon Lust auf etwas Neues. „Das mit den Videos war für mich dann irgendwie durch.“ Also überlegte sie, was sie sonst noch bei DaWanda machen könnte. So kam sie auf die Idee, ihre beiden Jobs miteinander zu verbinden. Sie schaffte es, ihren Vorgesetzten ein internes Weiterbildungssystem für das Unternehmen schmackhaft zu machen – und begann, das Konzept zu entwerfen und einzuführen.

25 Mails an 25 Freund*innen

Mit der Zeit ging es DaWanda wirtschaftlich nicht mehr gut. Also begab Lena sich auf die Suche nach neuen Jobs. Das Problem: Die meisten Stellen waren als Vollzeitstellen ausgeschrieben. Sie wollte aber weiterhin 40 Prozent ihrer Zeit als Trainerin arbeiten – und suchte daher nur einen Job für 60 Prozent der Zeit. „Bewerbungen schreiben ging deswegen nicht“, sagt sie. „Also habe ich 25 Freund*innen von mir, die gut vernetzt sind, erklärt, was ich kann und was ich mache – und dann geschaut, was passiert. Das war super spannend.“

Auf dem Weg ist sie zu der Agentur gekommen, für die sie jetzt alle möglichen Berufsgruppen weiterbildet. Auf einer Rooftop-Party habe sie jemanden aus der Agentur kennengelernt – wie im Film, sagt sie. Das war 2017. Seitdem ist die Agentur einer ihrer Jobs.

Hobby: Hochzeitsreden

Und dann sind da noch die Dinge, die Lena Hobbys nennt: Die Venture Ladies. Und die Hochzeitsreden. Zu beidem ist sie über Freundinnen gekommen. Zu den Hochzeitsreden über eine Freundin, die Veranstaltungen plant. „Wir waren zusammen Abendessen und sie hat mir erzählt, dass es in Würzburg, wo ich her bin, noch an einer Frau fehlt, die Hochzeitsreden hält. Ich dachte mir, warum nicht.“ 

Mittlerweile gibt es verschiedene Locations, die Lena als Hochzeitsrednerin empfehlen. 60 Anfragen bekommt sie pro Jahr. Nur acht Paare nimmt sie an. Mehr schafft sie zeitlich nicht. Die Hochzeitsreden sollen ein schönes Hobby bleiben. Wenn sie auf einer Hochzeit eine Rede hält, trifft sie sich vorher vier Stunden lang mit dem Paar, um die Personen besser kennenzulernen. Sie liebt es, die Geschichten der Paare zu hören. „Und wenn die sich dann später in meiner Rede wiederfinden und die Eltern sitzen da und heulen, dann bin ich zufrieden und beschwingt.“ 

Frauen, die sich vernetzen

Vieles in Lenas Leben ist passiert, weil sie die richtigen Menschen kannte. Für viele klappt das so nicht. Damit es leichter wird, gibt es berufliche Netzwerke. Das, das Lena mitorganisiert, heißt Venture Ladies. Zu den Venture Ladies gekommen ist sie, mal wieder, über eine gute Freundin. „Die hat mir erzählt, dass es viel zu wenig Gründerinnen gibt – und dass sie Lust hat, Gründerinnen fördern und ein Netzwerk aufzubauen. Sie hat gefragt, ob ich Bock habe, das mitzuorganisieren.“ Lena hatte Bock. Das war vor fünf Jahren.

Seitdem haben sich die Venture Ladies ganz schön weiterentwickelt. 2.000 Mitglieder gibt es mittlerweile – zu viele, als dass Lena noch jedes Mitglied persönlich kennen könnte. „Früher war das noch so, aber das klappt jetzt nicht mehr. Wenn interessante Leute Mitglied werden, zieht das andere interessante Leute an. Wir schalten ganz bewusst keine Werbung, weil wir eigentlich gar nicht weiter wachsen wollen.“ Auch einige Männer sind Mitglied in dem Netzwerk. 

Bei den Trainings, Workshops, Diskussionsrunden und Vorträgen, die Lena und ihre Kolleginnen organisieren, sei es leicht, Gleichgesinnte kennenzulernen. „Wenn du gründest oder ein Geschäft hast, bringt es dir viel, wenn du andere gute Leute kennst“, sagt Lena. Die Venture Ladies hätten nicht nur einmal Jobs oder Businesses hervorgebracht. Auch sie selbst habe das Netzwerk beruflich weitergebracht. Mit den Venture Ladies an sich verdient Lena allerdings nichts. Sie nennt das Netzwerk mit einem Grinsen „ihr Privatvergnügen“.

So, wie Lena arbeitet, verschwimmen Arbeit und Privatleben schnell miteinander. Auf die Frage, wie viele Stunden sie pro Woche arbeitet, kann sie keine konkrete Antwort geben. Zum einen ist für sie jede Woche unterschiedlich. Zum anderen stellt sich die Frage, was von all dem Arbeit ist und was nicht. Sie erzählt: „Heute morgen habe ich zum Beispiel ein Buch über Coachingstrategien gelesen. Eigentlich ist das ja genau der Inhalt meiner Arbeit, aber das Buch habe ich einfach gelesen, weil es mich interessiert hat.“

Oft, wenn ihre Kolleg*innen Feierabend machen, hat Lena noch nicht genug. Dann geht sie auf Konferenzen oder andere Veranstaltungen, die etwas mit Weiterbildung oder Wirtschaft zu tun haben. So lernt sie oft neue Ideen oder Menschen kennen. Einmal hat sie bei einer Paneldiskussion, die sie zu flach fand, so viele kritische Fragen gestellt, dass sie danach ein Fremder angesprochen hat. Heute arbeiten beide zusammen. So etwas passiert nicht, wenn man Punkt fünf den Stift fallen lässt und sich in den Park legt. Andererseits, gibt Lena zu: „Meistens ist es schon so, dass ich sehr beschäftigt bin und bestimmt auch eher mal mehr als 40 Stunden arbeite.“

Wirklich schlimm ist das für sie aber nicht. Sie findet es sogar ganz gut, dass sie Arbeit und Privatleben nicht so einfach auseinanderhalten kann. Das zeige ja auch, dass ihr der Job Spaß macht. Die soziale Komponente am Coaching und Training begeistere sie. „Manchmal sieht man richtig, wie bei den Leuten der Groschen fällt“, sagt sie. „Das ist so cool!“ Sie könne mit ihrer Arbeit einen positiven Effekt auf das Leben anderer Menschen haben. Das treibt sie an, sagt Lena.

Nicht der eine große Traum

Auch in ihrem eigenen Lebensweg haben viele andere Menschen eine positive Rolle gespielt, neue Ideen und Perspektiven eingebracht. Lena erzählt: „Es gibt ja so Menschen, die sich krasse Ziele setzen oder einen großen Traum haben. So ist das bei mir nicht. Ich hatte nie den einen großen Traum. Manchmal ist das schwierig, aber oft auch gut.“ Sie sage meistens erstmal Ja, wenn sich eine Chance biete. So seien echt coole Dinge entstanden. Und langweilig werde es auch nie: „Ich weiß nicht, ob ich in 20 Jahren noch dasselbe mache. Wenn jemand kommt und mir anbietet, in einem Hotel in Österreich zu arbeiten – ja gern. Klingt spannend.“ Sie lacht.

Chancen ergreifen und immer wieder etwas Neues beginnen – dazu gehören auch eine Menge Flexibilität, Optimismus und Tatendrang. Glück und das richtige Umfeld allein reichen nicht. Ebenso wichtig, sagt Lena, ist, was man daraus macht: „Ich sehe das bei anderen, da ist es häufig ein langer Prozess, wenn die etwas verändern. Eine Freundin von mir hat zwei Jahre gebraucht, bis sie sich endlich getraut hat, zu kündigen. Bei mir ist das anders. Ich ändere schnell etwas, wenn mich was stört.“ Diese Eigenschaft bewahre sie oft davor, im Schmerz steckenzubleiben. „Aus blöden Dingen entsteht schließlich oft etwas Cooles. Letztes Jahr war ich traurig, aus meiner Wohnung ausziehen zu müssen. Aber jetzt wohne ich hier in dieser wunderbaren Wohnung mit meiner Freundin. Im Nachhinein war das also auch wieder ein absoluter Glücksfall.“ So seien, sagt Lena, viele Steine, die ihr im Weg lagen, auf lange Sicht hilfreich gewesen.

Es ist leichter, optimistisch in die Welt zu schauen, wenn Sicherheit und Selbstbewusstsein in Fleisch und Blut übergegangen sind. Sie habe immer gewusst, dass sie im Ernstfall weich fallen würde, sagt Lena. Wegen ihrer Familie, aber auch, weil sie in Deutschland lebe, in einem demokratischen Land mit einem Sozialsystem: „Mir ist sehr bewusst, wieviel Glück ich hatte und wie gut es mir hier geht.“

Selbstbewusst erzogen

Außerdem haben ihre Eltern sie sehr selbstbewusst erzogen, erzählt Lena. „Sie haben mich viel ausprobieren lassen, so dass ich auch früher schon Selbstwirksamkeit erfahren konnte.“ Das habe sie extrem geprägt. Schon als Kind habe sie immer zu hören bekommen, dass sie das finden solle, was sie wirklich glücklich mache.

Mit genau dem Ziel sei sie in ihr Erwachsenenleben gestartet – und genau das habe sie auch immer noch vor Augen. „Ich finde nach wie vor, dass das Wichtigste ist, herauszufinden, was für einen selbst passt. Und das dann durchzuziehen. Auch, wenn die Gesellschaft das vielleicht komisch findet.“

Lena ist 36, Single, und lebt mit einer Freundin in einer WG. In Berlin ist das nicht ungewöhnlich. In Würzburg, wo sie herkommt, wäre es das schon, sagt sie. „Es gibt Entscheidungen, die gesellschaftlich belohnt werden: Kinder, Ehe, Familie. Diese Dinge bekommen viel Aufmerksamkeit. Wenn ich im Gegenzug ein großes Projekt erfolgreich abschließe, habe ich manchmal das Gefühl, dass das weniger interessant ist.“ Sie habe sich oft gefragt, warum das so ist.

Total frei

„Meine Cousinen sind zehn Jahre jünger und haben zwei Kinder und ein eigenes Haus. Das stresst mich schon manchmal. Dann muss ich immer einen Schritt zurückgehen und mir sagen: Moment mal. Ich habe doch ganz bewusst ein ganz anderes Lebenskonzept.“ Da seinen eigenen Weg zu finden, sei nicht immer leicht. Prinzipiell, sagt Lena, hätte sie nichts gegen Kinder oder einen Partner. Aber eben nur, wenn es wirklich passt. Das sei bisher noch nicht passiert.

Am Ende des Tages, sagt Lena, genießt sie ihre Freiheit: „Ich habe keinerlei Verpflichtungen, muss nichts abbezahlen und bin gesund. Ich habe alle Möglichkeiten der Welt. Das ist schon sehr großes Glück.“ Wenn sie Lust hätte, könnte sie auch morgen wieder kellnern gehen, sagt sie. Sie wisse, dass die Menschen um sie herum in jedem Fall hinter ihr stünden.

Und, fügt sie hinzu, theoretisch könne sie sogar auch einfach mal zwei Jahre nicht arbeiten. So gut verdient sie in ihrem Job. Auch das, sagt sie: ein glücklicher Zufall, gepaart mit dem richtigen Händchen für die Situation. Wie so vieles in ihrem Leben.

Als ich mit der Recherche für „gretchenfragen“ begonnen habe, habe ich sehr viele Menschen aus meinem beruflichen oder privaten Umfeld gefragt, welche Frauen sie gern auf der Seite porträtiert sehen würden.

Lenas jüngere Schwester ist eine gute Freundin von mir. Sie hat Lena als Protagonistin vorgeschlagen. Weil Lena „wichtig ist, das zu tun, was sie glücklich macht und nicht, was andere von ihr erwarten“, ist ihre große Schwester eines ihrer großen Vorbilder, hat sie mir erzählt.

Ich wollte Lena treffen, weil mich interessiert hat, wie ein Leben aussehen kann, wenn man entscheidet, sich nicht zu entscheiden. Denn ich habe das Gefühl, dass viele Menschen denken, sie müssten ihre eine große Leidenschaft finden. Dabei sind Menschen ja oft ziemlich vielschichtig. Lena zeigt, wie es ist, wenn man sich nicht zwingt, sich für eine Sache zu entscheiden.

Ich habe Lena am 24. Mai 2020 in Berlin getroffen. Das Porträt gibt den Stand wieder, den ihr Leben zu diesem Zeitpunkt hatte. Lena wird im Porträt auf eigenen Wunsch nur beim Vorname genannt.

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