Lenas Berliner Wohnung fühlt sich gleich wie ein Zuhause an. Sie steht in einem bunten Kimono und mit einem breiten Lächeln in der Wohnungstür und geht einen Schritt zur Seite, um mich hereinzulassen. Offensichtlich zählt Inneneinrichtung zu einem der tausend Dinge, die Lena gerne und gut macht, denke ich, und bin gespannt auf den Rest der Wohnung. Lena bietet mir Getränke an und lotst mich ins Wohnzimmer.
Dass sie jetzt mit einer engen Freundin in dieser Wohnung wohnt, ist dem Zufall geschuldet – wie so vieles von dem, was sie später erzählt. Im Nachhinein ist auch dieser Zufall zu einem Glücksfall geworden.
Lena hat nicht einen Job, sondern viele. Sie macht tausend Dinge gleichzeitig. Das ist der Grund, warum ich bei ihr bin. Ich will herausfinden, wie das funktionieren kann: Tausend verschiedene Dinge machen, je nachdem, was kommt, und sich nicht für einen Job entscheiden müssen.
Einer, zwei, drei – viele Jobs
Momentan arbeitet Lena die Hälfte ihrer Zeit für eine Agentur, in der sie Weiterbildungsprogramme anbietet, unter anderem für Kunden wie das Wirtschaftsministerium. Außerdem ist sie selbstständige Trainerin und Business Coach, unter anderem für die Unternehmensberatung ihres Vaters. Und sie leitet gemeinsam mit zwei anderen Frauen die Venture Ladies, ein Berliner Netzwerk für Gründerinnen. Ach, und sie ist Hochzeitsrednerin. Das ist aber eher ein Hobby, sagt sie. Ich muss lachen.
So, wie Lena arbeitet, verschwimmen Arbeit und Privatleben schnell miteinander. Auf die Frage, wie viele Stunden sie pro Woche arbeitet, kann sie keine konkrete Antwort geben. Zum einen ist für sie jede Woche unterschiedlich. Zum anderen stellt sich die Frage, was von all dem Arbeit ist und was nicht. Sie erzählt: „Heute morgen habe ich zum Beispiel ein Buch über Coachingstrategien gelesen. Eigentlich ist das ja genau der Inhalt meiner Arbeit, aber das Buch habe ich einfach gelesen, weil es mich interessiert hat.“
Oft, wenn ihre Kolleg*innen Feierabend machen, hat Lena noch nicht genug. Dann geht sie auf Konferenzen oder andere Veranstaltungen, die etwas mit Weiterbildung oder Wirtschaft zu tun haben. So lernt sie oft neue Ideen oder Menschen kennen. Einmal hat sie bei einer Paneldiskussion, die sie zu flach fand, so viele kritische Fragen gestellt, dass sie danach ein Fremder angesprochen hat. Heute arbeiten beide zusammen. So etwas passiert nicht, wenn man Punkt fünf den Stift fallen lässt und sich in den Park legt. Andererseits, gibt Lena zu: „Meistens ist es schon so, dass ich sehr beschäftigt bin und bestimmt auch eher mal mehr als 40 Stunden arbeite.“
Wirklich schlimm ist das für sie aber nicht. Sie findet es sogar ganz gut, dass sie Arbeit und Privatleben nicht so einfach auseinanderhalten kann. Das zeige ja auch, dass ihr der Job Spaß macht. Die soziale Komponente am Coaching und Training begeistere sie. „Manchmal sieht man richtig, wie bei den Leuten der Groschen fällt“, sagt sie. „Das ist so cool!“ Sie könne mit ihrer Arbeit einen positiven Effekt auf das Leben anderer Menschen haben. Das treibt sie an, sagt Lena.
Nicht der eine große Traum
Auch in ihrem eigenen Lebensweg haben viele andere Menschen eine positive Rolle gespielt, neue Ideen und Perspektiven eingebracht. Lena erzählt: „Es gibt ja so Menschen, die sich krasse Ziele setzen oder einen großen Traum haben. So ist das bei mir nicht. Ich hatte nie den einen großen Traum. Manchmal ist das schwierig, aber oft auch gut.“ Sie sage meistens erstmal Ja, wenn sich eine Chance biete. So seien echt coole Dinge entstanden. Und langweilig werde es auch nie: „Ich weiß nicht, ob ich in 20 Jahren noch dasselbe mache. Wenn jemand kommt und mir anbietet, in einem Hotel in Österreich zu arbeiten – ja gern. Klingt spannend.“ Sie lacht.
Chancen ergreifen und immer wieder etwas Neues beginnen – dazu gehören auch eine Menge Flexibilität, Optimismus und Tatendrang. Glück und das richtige Umfeld allein reichen nicht. Ebenso wichtig, sagt Lena, ist, was man daraus macht: „Ich sehe das bei anderen, da ist es häufig ein langer Prozess, wenn die etwas verändern. Eine Freundin von mir hat zwei Jahre gebraucht, bis sie sich endlich getraut hat, zu kündigen. Bei mir ist das anders. Ich ändere schnell etwas, wenn mich was stört.“ Diese Eigenschaft bewahre sie oft davor, im Schmerz steckenzubleiben. „Aus blöden Dingen entsteht schließlich oft etwas Cooles. Letztes Jahr war ich traurig, aus meiner Wohnung ausziehen zu müssen. Aber jetzt wohne ich hier in dieser wunderbaren Wohnung mit meiner Freundin. Im Nachhinein war das also auch wieder ein absoluter Glücksfall.“ So seien, sagt Lena, viele Steine, die ihr im Weg lagen, auf lange Sicht hilfreich gewesen.
Es ist leichter, optimistisch in die Welt zu schauen, wenn Sicherheit und Selbstbewusstsein in Fleisch und Blut übergegangen sind. Sie habe immer gewusst, dass sie im Ernstfall weich fallen würde, sagt Lena. Wegen ihrer Familie, aber auch, weil sie in Deutschland lebe, in einem demokratischen Land mit einem Sozialsystem: „Mir ist sehr bewusst, wieviel Glück ich hatte und wie gut es mir hier geht.“
Selbstbewusst erzogen
Außerdem haben ihre Eltern sie sehr selbstbewusst erzogen, erzählt Lena. „Sie haben mich viel ausprobieren lassen, so dass ich auch früher schon Selbstwirksamkeit erfahren konnte.“ Das habe sie extrem geprägt. Schon als Kind habe sie immer zu hören bekommen, dass sie das finden solle, was sie wirklich glücklich mache.
Mit genau dem Ziel sei sie in ihr Erwachsenenleben gestartet – und genau das habe sie auch immer noch vor Augen. „Ich finde nach wie vor, dass das Wichtigste ist, herauszufinden, was für einen selbst passt. Und das dann durchzuziehen. Auch, wenn die Gesellschaft das vielleicht komisch findet.“
Lena ist 36, Single, und lebt mit einer Freundin in einer WG. In Berlin ist das nicht ungewöhnlich. In Würzburg, wo sie herkommt, wäre es das schon, sagt sie. „Es gibt Entscheidungen, die gesellschaftlich belohnt werden: Kinder, Ehe, Familie. Diese Dinge bekommen viel Aufmerksamkeit. Wenn ich im Gegenzug ein großes Projekt erfolgreich abschließe, habe ich manchmal das Gefühl, dass das weniger interessant ist.“ Sie habe sich oft gefragt, warum das so ist.
Total frei
„Meine Cousinen sind zehn Jahre jünger und haben zwei Kinder und ein eigenes Haus. Das stresst mich schon manchmal. Dann muss ich immer einen Schritt zurückgehen und mir sagen: Moment mal. Ich habe doch ganz bewusst ein ganz anderes Lebenskonzept.“ Da seinen eigenen Weg zu finden, sei nicht immer leicht. Prinzipiell, sagt Lena, hätte sie nichts gegen Kinder oder einen Partner. Aber eben nur, wenn es wirklich passt. Das sei bisher noch nicht passiert.
Am Ende des Tages, sagt Lena, genießt sie ihre Freiheit: „Ich habe keinerlei Verpflichtungen, muss nichts abbezahlen und bin gesund. Ich habe alle Möglichkeiten der Welt. Das ist schon sehr großes Glück.“ Wenn sie Lust hätte, könnte sie auch morgen wieder kellnern gehen, sagt sie. Sie wisse, dass die Menschen um sie herum in jedem Fall hinter ihr stünden.
Und, fügt sie hinzu, theoretisch könne sie sogar auch einfach mal zwei Jahre nicht arbeiten. So gut verdient sie in ihrem Job. Auch das, sagt sie: ein glücklicher Zufall, gepaart mit dem richtigen Händchen für die Situation. Wie so vieles in ihrem Leben.
Wie es zum Treffen mit Lena gekommen ist
Als ich mit der Recherche für „gretchenfragen“ begonnen habe, habe ich sehr viele Menschen aus meinem beruflichen oder privaten Umfeld gefragt, welche Frauen sie gern auf der Seite porträtiert sehen würden.
Lenas jüngere Schwester ist eine gute Freundin von mir. Sie hat Lena als Protagonistin vorgeschlagen. Weil Lena „wichtig ist, das zu tun, was sie glücklich macht und nicht, was andere von ihr erwarten“, ist ihre große Schwester eines ihrer großen Vorbilder, hat sie mir erzählt.
Ich wollte Lena treffen, weil mich interessiert hat, wie ein Leben aussehen kann, wenn man entscheidet, sich nicht zu entscheiden. Denn ich habe das Gefühl, dass viele Menschen denken, sie müssten ihre eine große Leidenschaft finden. Dabei sind Menschen ja oft ziemlich vielschichtig. Lena zeigt, wie es ist, wenn man sich nicht zwingt, sich für eine Sache zu entscheiden.
Ich habe Lena am 24. Mai 2020 in Berlin getroffen. Das Porträt gibt den Stand wieder, den ihr Leben zu diesem Zeitpunkt hatte. Lena wird im Porträt auf eigenen Wunsch nur beim Vorname genannt.